Wir wollen heute gemeinsam einen bewegten und bewegenden Abend verbringen“, versprach Lisa Porada aus der Baden-Württembergischen Sportjugend (BWSJ). Sie warf damit die zentrale Frage des Abends „Wie schaffen wir es, Kinder und Jugendliche in die Sportvereine (zurück) zu bringen?“ zu Beginn des Jugendpolitischen Abends auf. Jens Jakob, Vorsitzender der BWSJ, richtete den Blick auf die Lösungsfindung: „Was müssen wir machen, was brauchen wir, um junge Menschen wieder zum Sport zu bringen?“ Lange saßen die Teilnehmenden nicht auf ihren Plätzen, denn die BWSJ hatte neben kritischen Fragen ein aktivierendes Programm vorbereitet.

Die Jugend-, Sport- und Gesundheitspolitischen Sprecher der Fraktionen im Landtag wurden zu Übungsleitern. Mit dem Song „No roots“ und dem  sogenannten FlossDance brachte Erwin Köhler, Jugendpolitischer Sprecher Bündnis 90/Die Grünen, Schwung in die Sporthalle der Landessportschule Ruit. Er forderte auf zu Hüftschwung, Sidestep und Drehungen. Doch der Anlass für diesen bewegungsreichen Abend war ein ernster, wie Wissenschaftlerin Katja Klemm vom Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in einem Impulsvortrag anhand einiger Zahlen und Fallbeispiele deutlich machte.

Besorgniserregende Zahlen

Neueste WHO-Studien zeigen, dass 85 Prozent der Kinder und Jugendlichen in Deutschland „inaktiv“ sind, die von der WHO vorgesehene Aktivitätszeit also  nicht erreichen. In Europa sind 38 Prozent, in Baden-Württemberg 12,6 Prozent der Kinder und Jugendlichen übergewichtig, 5,2 Prozent im Land sind  adipös. 71 Prozent der jungen Menschen leiden unter psychischer Überlastung. Diese Zahlen betreffen Kinder und Jugendliche aller sozialen Schichten. Als wäre dies nicht beunruhigend genug, fügte Sportwissenschaftlerin Katja Klemm eine weitere Zahl der WHOStudie an: Drei Millionen US-Dollar an direkten Kosten verursacht diese Inaktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – pro Jahr.
Katja Klemm stellte die Anerkennung des Ist-Zustands und die daraus folgende Notwendigkeit zu handeln als wichtigste Schritte heraus. Auch für sie steht die Frage im Zentrum, was der Sport tun kann, damit es den Kindern und Jugendlichen wieder besser geht. Sportvereine als Sport- und  Bewegungsinstitutionen seien wichtige Antreiber für die Fitness der Menschen. Nur gemeinsam mit der Politik und einem Netzwerk aller wichtigen Akteure  könnten die besorgniserregenden Zahlen verbessert werden. „Ein Netzwerk aus Politik, gemeinnützigen Organisationen, Steakholdern muss  zusammenarbeiten, damit sich etwas ändert“, erklärte die Wissenschaftlerin.

Anliegen äußern und in die Politik tragen

Jochen Haussmann, Gesundheitspolitischer Sprecher FDP, brachte das Publikum durch eine Übungseinheit mit Bällen in Schwung und verteilte die Teilnehmenden im Anschluss auf drei Diskussionsgruppen. In diesen wurde kritisch diskutiert, welche Probleme und Herausforderungen das Sportsystem zu bewältigen hat, um Kinder in Bewegung und in die Sportvereine  zu bringen. Zudem wurde gemeinsam mit den Politikern thematisiert, inwieweit die Rahmenbedingungen verbessert werden können, um mehr Kinder länger an den Vereinssport zu binden. Auch für weitere Anliegen der anwesenden Vertreter von Sportvereinen, Sportkreisen, Verbänden, der regionalen Sportjugenden sowie von jungen Engagierten aus den Freiwilligendiensten im Sport hatten die  Abgeordneten ein offenes Ohr. „Bringt eure Anliegen und Anregungen, all das was euch beschäftigt, unbedingt ein; kontaktiert eure Wahlkreisvertreter oder auch uns Jugendund Sportpolitischen Sprecher, sodass ihr gehört werdet“, so Erwin Köhler. Genau diesem Austausch dient der Jugendpolitische Abend der BWSJ, und auch in diesem Jahr bestätigte sich die Notwendigkeit dieser Veranstaltung.

Neue, große Herausforderungen

Neben der zentralen Fragestellung kamen viele zugehörige Themen, wie beispielsweise das Ehrenamt im Sport, auf. Jürgen Scholz, Präsident des Landessportverbandes Baden-Württemberg (LSVBW), beschrieb, dass viele Übungsleiter nach den Lockdowns ihr Engagement nicht wiederaufgenommen hatten und „sich auch immer weniger Eltern in die Vereinsarbeit einbringen“. Hierbei müssten Anreize, die über den freitäglichen freien Eintritt ins Museum hinaus gingen, geschaffen werden, ergänzte Jens Jakob, beispielsweise „über die Steuer, den Numerus Clausus, den öffentlichen Nahverkehr. Entscheidend ist die Wertschätzung des Engagements.“
Scholz thematisierte zudem die Energiekrise: „Dabei geht es ans Eingemachte, da geht es ums Geld. Mancher Vorstand stellt sich die Frage: Kann ich mir diese Hallenstunde noch leisten? Sportvereine mit eigenen Immobilien stehen kurz vor der Insolvenz, weil die Kosten explodieren. Zusätzlich drohen Sporthallen geschlossen zu werden, weil die Städte und Gemeinden Unterkünfte für Geflüchtete benötigen.“

„Die Kinder sind es wert!“

Dass die neuen Krisen nach den vorangegangenen den organisierten Sport vor neue, noch größere Herausforderungen stellen, ist bekannt. Doch welche Auswirkungen wird dies auf die Vereinslandschaft haben? „Sport vermittelt ein Gemeinschaftserlebnis; initiiert gruppendynamische Prozesse; lehrt, dass man sich auch einmal unterordnen muss. Sportvereine bilden für Menschen Zufluchtsstätten, dort können sie ihrem Alltag entfliehen. Die gesellschaftliche  Funktion, die Sportvereine einnehmen, muss immer wieder hervorgehoben werden“, zählte Jürgen Scholz die Leistungen der Sportvereine auf, und fügte warnend an: „Wir müssen aufpassen, dass uns nicht irgendetwas entgleitet, das wir später nicht mehr zurückholen können.“ Jürgen Scholz rief deshalb alle Beteiligten zu großer Kreativität auf, um das Gut organisierter Sport zu erhalten. „Die Kinder sind es wert, das steht außer Frage!“, so der LSVBW-Präsident.

Perspektivwechsel

Die Politiker versetzten sich für eine Diskussionsrunde in die Lage von Vereinsvertretern und erläuterten die aktuellen Herausforderungen aus Sicht eines engagierten Jugendlichen, eines Übungsleiters, eines Jugendleiters und eines Vereinsvorsitzenden. Die Wünsche und Forderungen an die Politik formulierten die politischen Vertreter in diesem Rahmen selbst. Einig waren sich Manuel Hailfinger (Sportpolitischer Sprecher CDU), Jochen Haussmann (Gesundheitspolitischer Sprecher FDP), Andreas Kenner (Jugendpolitischer Sprecher SPD) und Erwin Köhler (Jugendpolitscher Sprecher Bündnis 90/Die Grünen), dass es zu keinem erneuten Lockdown kommen darf und es auf eine kleine Hallen-Temperatursenkung nicht ankommt: „Wenn die Halle ein bis zwei Grad kälter ist, macht das nichts aus, aber wir brauchen die Halle, die Sportstätte“, so Andreas Kenner. Manuel Hailfinger und Jochen Haussmann ergänzten: „Der Kontakt zwischen den Übungsleitern und den Kindern darf nicht wieder abreißen.“
Die ein oder andere selbstkritische Spitze, in etwa in Bezug auf die Altersstruktur in Politik und Funktionärsebene, brachte Andreas Kenner als engagierter Jugendlicher an: „Als junger Engagierter treffe ich mit meinen neuen Ideen vorwiegend auf alte Leute. Dann denke ich mir, dass ich auch genauso gut mit meinem Opa reden kann.“

Verbindlicher Ganztag ab 2026

Jens Jakob blickte zum Abschluss über die aktuellen Themen mangelnde Fitness, Rückgewinnung von Mitgliedern, Engagementförderung und Energiekrise hinaus: „Die ganz große Herausforderung, der wir uns stellen müssen, ist der verbindliche Ganztag. Bis 2026 ist es nicht mehr weit hin. Allein mit Ehrenamt lässt sich diese Herausforderung nicht bewältigen. Der Sport wird nicht umhinkommen, hauptberufliche Strukturen oder eine Mischform zu installieren.“ Der Politik gab er mit auf den Weg, die Rahmenbedingungen ausgestalten zu müssen, mit unterstützenden Anregungen von Jugend- und Sportverbänden.
Die Fragen werden nicht weniger, die Suche nach den Antworten erfordert auch in Zukunft den Austausch zwischen Jugend, Sport und Politik – oder um es mit den Worten Andreas Kenners zu sagen: Die (Sport-) Jugend muss auf die Politiker zugehen und sie „nerven“.