Norwegen – das sind nicht nur gute Biathleten und Langläufer, sondern auch Leichtathleten, Triathleten, Handballer und Beach-Volleyballer. Welches Verhältnis die Skandinavier zum Sport haben, erklärt Skisprung-Cheftrainer Alexander Stöckl im Interview mit „Sport in BW“.

Herr Stöckl, mit etwa 5,5 Millionen Einwohnern ist Norwegen im Vergleich zu Deutschland ein winziges Land. Trotzdem glänzen außer überragenden Wintersportlern immer wieder herausragende Sportler auch in Sommersportarten. Sie leben seit mehr als zehn Jahren mit Ihrer Familie in der Nähe von Oslo. Was läuft in Ihrer Wahlheimat anders?

Ein wichtiger Faktor ist sicherlich die Einstellung zu Aktivitäten in der Freizeit. Grundsätzlich sind die Norweger sportlich aktiv. Und Kinder und Jugendliche treiben häufig in drei oder vier verschiedenen Vereinen Sport. Weil häufig beide Elternteile vollzeitbeschäftigt sind, werden den Kindern an der Schule nach dem Unterricht alle möglichen Aktivitäten angeboten. Diese kommen von sehr vielen Vereinen. Die holen die Kinder ab und bringen sie nach dem Training wieder zur Schule zurück.

Lernen die Kinder bei diesem Training nur die Sportarten kennen oder ist dies schon leistungsorientiert?

In Norwegen gibt es exakte Regeln für den Sport mit Kindern. In dem sogenannten Kindersportgesetz sind die Inhalte ziemlich genau beschrieben. Zunächst geht es einfach um Bewegung, die spielerische Komponente ist sehr wichtig. Bis zum zwölften Lebensjahr gibt es bei Wettkämpfen keine Ergebnisliste, sondern nur eine alphabetische Aufzählung, in der hinter dem Namen die Leistung steht. Die Spezialisierung auf eine Sportart erfolgt in Norwegen etwas später als in Deutschland oder Österreich.

Dies ist interessant, weil gerade in Deutschland die Idee des Deutschen Fußball-Bundes sehr hitzig diskutiert wird, dass es bis zur E-Jugend keine Ergebnisse und keine Tabellen mehr geben soll. Bei den Bundesjugendspielen werden weiter Ehren- und Siegerurkunden vergeben, aber beim Weitsprung soll zum Beispiel die gesprungene Weite nicht mehr genau gemessen werden.

Das ist in Norwegen schon lange gang und gäbe. Man versucht einfach, den Sport dem Alter anzupassen. Das betrifft generell die Wettkampfformen. Im Langlaufen sind sie sehr kreativ. Da geht es nicht allein um die reine Zeit, sondern dazwischen müssen Geschicklichkeitsübungen wie ein Slalom oder ein Sprung über eine Schanze absolviert werden. Damit soll die spielerische Komponente mehr gefördert werden.

Wie viele Stunden Sport werden in der Schule erteilt?

Weil die Kinder sich nachmittags viel bewegen, sind das gar nicht so viele Stunden. Unsere Tochter mit sieben Jahren hat zweimal die Woche eineinhalb Stunden Sportunterricht. Aber man darf nicht vergessen, dass sie einen Unterrichtstag pro Woche haben, an dem sie im Freien, etwa einem Park, sind. Jeder Pause können sie rumspringen, an den Nachmittagen sind sie sehr viel draußen. Zur Schule gehört auch ein toller Spielplatz mit Klettertürmen und Schaukeln, auch ein kleiner Fußballplatz. Da können sich die Kinder wirklich draußen bewegen. Das ist zwar nicht immer im Sinne einer sportlichen Betätigung, aber sie bewegen sich. Deswegen ist der Sportunterricht nicht ganz so wichtig.

Von welchem Alter an beginnt das zielgerichtetere Training? Wann kommen die Sportverbände mit ins Spiel?

Das ist von Sportart zu Sportart verschieden, je nachdem wie das Hochleistungsalter im Sport ist. Bei den Wintersportarten wie Skispringen beginnen die organisierten Wettkämpfe im überregionalen Bereich zwischen zehn und zwölf Jahren. Im Langlauf ist das ähnlich. Zwischen zehn und zwölf Jahren geht die Bewegung in Richtung sportspezifisches Training und eine Spezialisierung. Trotzdem werden häufig zwei, drei Sportarten parallel betrieben. Das ist bei uns ähnlich wie das kanadische System mit den fünf verschiedenen Entwicklungsstufen und der Zielsetzung der einzelnen Stufen.

Gibt es einen Unterschied in der Mentalität zwischen Deutschen und Österreichern sowie den Norwegern?

Im Sport gilt der Grundsatz: Harte Arbeit schlägt alles. In Deutschland und Österreich, so habe ich das Gefühl, fußt eine gute Lösung immer auf viel Technik und guten Geräten. Die Messmethoden und alles, was man in die Technik einbinden kann, sind häufig wichtiger als die eigentliche Trainingsarbeit. Das sieht ein Vergleich zwischen dem Olympiazentrum in Oslo, dem Olympia-Toppen, und dem Olympiazentrum in Salzburg oder dem Sportinstitut der Uni Innsbruck. Die Geräte und die technische Ausstattung, die bei uns zur Verfügung stehen, sind im Vergleich geradezu lächerlich. Alle, die das sehen, glauben uns nicht, dass wir unter diesen Bedingungen trainieren. Bei uns gibt es einen Kraftraum mit ein paar Gewichtshanteln, daneben ein Motorikraum mit ein paar Matten. Das reicht, mehr braucht man nicht. Die wahre Leistung entsteht im Kopf und in der Kreativität des Trainers und des Athleten.

Dieser Olympia-Toppen wird aber als das Nonplusultra bezeichnet. Was macht diesen Olympia-Toppen so besonders, wenn die technische und gerätemäßige Ausstattung nicht so üppig ausfällt?

Aus meiner Sicht macht diesen Olympia-Toppen so besonders, dass alle Sportarten die Möglichkeit haben Spezialisten für die unterschiedlichsten Bereiche zu buchen. Es gibt Fachleute für Motorik, Fachleute für Krafttraining, Fachleute für Ausdauertraining, Fachleute für Aerodynamik, Fachleute für Ernährung, Fachleute für Mentaltraining. Jedes Mitglied einer Nationalmannschaft einer olympischen Sportart darf deren Leistungen in Anspruch nehmen. Der riesige Vorteil im Vergleich zu Deutschland und Österreich ist: Es gibt nur eine Instanz, das ist der Olympia-Toppen. In Deutschland und Österreich gibt es viele verschiedene Institutionen. Der wichtigste Platz im Olympia-Toppen ist für mich aber die Kantine. Warum? Dort trifft man sich beim Mittagessen mit den Trainern aus den verschiedenen Sportarten, kann sich über die aktuellen Herausforderungen austauschen und viele Informationen und Wissen mitnehmen. Die Impulse, die man da bekommt, sind hilfreich. Diese Möglichkeit ist sehr interessant.

Trotzdem sind in Norwegen die Distanzen riesig von Oslo im Süden bis Tromsø im Norden.

Das ist richtig, Tromsø ist das nördlichste Olympiazentrum. Aber die einzelnen Olympiazentren sind untereinander sehr gut koordiniert und kommunizieren sehr gut. Und sie organisieren gemeinsame Fachweiterbildungen. Zum Beispiel ist der Motoriktrainer in Trondheim im ständigen Kontakt mit dem Motoriktrainer in Oslo. Gemeinsam entwickeln sie die Programme für unsere Athleten. Und sie besuchen sich gegenseitig vor Ort und trainieren mit den verschiedenen Athleten in kleineren Gruppen miteinander. Dass einfach das Wissen und die Erfahrung im Austausch immer weitergegeben werden.

Kommen wir zum aktuellen Sport: Der Skisprung-Weltcup startet am letzten November-Wochenende. In diesem Jahr geht’s wieder in Kuusamo los, ziemlich sicher auf Schnee und nicht wie im vergangenen Jahr auf der Hybridform mit Eisspur und Matte?

Für mich macht das grundsätzlich keinen Unterschied. Das Projekt Hybrid, wie wir es im vergangenen Jahr hatten, ist geglückt. Es hat zwei Vorteile. Der eine ist die Umweltbelastung durch den Energieverbrauch. Weil zu dieser Zeit in Mitteleuropa kein Schnee liegt, kostet die künstliche Herstellung von Schnee unheimlich viel Ressourcen. Das andere ist die Sicherheit. Wir haben immer wieder das Problem, dass durch warme Temperaturen die Schneequalität schlecht ist. In der Folge kam es häufig zu Stürzen und Verletzungen. Die Hybridform gibt uns die Möglichkeit, dass wir früher starten. Und dass wir die Möglichkeit auf Matten zu landen introduzieren. Dass die Leute verstehen, dass wir keine reine Wintersportart mehr sind. Das wissen viele Leute immer noch nicht. Wir können das ganze Jahr springen.

Sie gelten als Revoluzzer, weil Sie Skispringen zu einer Ganzjahressportart machen wollen.

Skispringen ist kein Wintersport, sondern ein Extremsport.

Das ist noch einmal ein ganz neuer Begriff.

Andere haben schon vor vielen Jahren erkannt, dass wir eine Extremsportart sind. Wir sind oft zu konservativ unterwegs, dass wir uns immer noch als eine Winter-Skisportart darstellen. Obwohl wir nicht wirklich mit anderen Sportarten vergleichbar sind. Speziell was den Markenwert betrifft. Wenn man das alpine Skifahren oder den Langlauf nimmt, dann ist das ein ganz anderer Ansatz, denn die haben eine Industrie im Hintergrund. Die verkaufen Ski, die verkaufen Material. Wir verkaufen außer dem Erlebnis an der Schanze gar nichts. Der Gedanke ist doch extrem, dass man mit einem Paar Holzbretter 250 Meter weit fliegen kann. Das müssen wir richtig verkaufen. Das einzige, was wir verkaufen können, ist das Erlebnis, sonst nichts. Da müssen wir innovativ sein und uns erweitern. Wenn wir uns nur an den Winter halten, der sowieso immer kürzer wird, dann glaube ich nicht, dass wir langfristig überleben werden.

Steckt hinter diesem Gedanken auch die Idee, das Skispringen breiter aufzustellen und auch für Länder attraktiv zu machen, die momentan noch nicht an Skispringen denken?

Genau. Es ist zwar ein extremer Sport, aber jeder, der sich traut auf einem Paar Ski die Anlaufspur runterzufahren, kann Skispringen. Dazu braucht es nicht notwendigerweise Schnee. Sondern es geht auf Matten und einer Keramik- oder Eisspur. Wenn man den Gedanken weiterspinnt, kann man auch fragen: Warum kann man nicht in Australien oder in Afrika Schanzen bauen? Für den Betrieb einer Schanze benötigt man nur ein bisschen Wasser und eine Matte. Sonst nichts.

Glauben Sie, dass die Zuschauer mitziehen?

Momentan beschränken wir uns selbst in unserer Entwicklung. Das hängt auch damit zusammen, dass wir ein Teil des internationalen Skiverbandes sind. Und der Skiverband ist ein Wintersportverband. Wir können aber das ganze Jahr springen. Damit die Leute dies verstehen, müssen wir ihnen introduzieren, dass wir die Möglichkeit haben auf Matten zu landen.