Vom 26. Juli bis 11. August 2024 finden in Paris die Olympischen Spiele statt. Dieses Ziel haben auch Sportler und Sportlerinnen aus Baden-Württemberg. „Sport in BW“ stellt aussichtsreiche Medaillenkandidaten vor: Gerne würde die sechsfach Weltmeisterin Darja Varfolomeev durch ihre Übungen und ihre Erfolge einen Gymnastik-Boom auslösen.

Plötzlich steht Darja Varfolomeev vor ganz neuen Herausforderungen. Etwa im Rahmen der Piotr-Nurowski-Preisverleihung, als die 16-jährige Sportgymnastin auf der Liste für die beste europäische Nachwuchsathletin 2023 stand. Vor der Jury musste die fünffache Titelträgerin der Weltmeisterschaften 2023 erklären, warum sie die Würdigung verdient hat. Und das auf Englisch. „Da war ich ganz schön aufgeregt“, gesteht die junge Athletin aus Fellbach-Schmiden, die in Barnaul in Sibirien geboren wurde, Tage später. Doch sie hat sich gut verkauft, denn Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), durfte ihr später zum Gewinn des Preises gratulieren.

Viel wohler als bei solch offiziellen Anlässen fühlt sich Darja Varfolomeev, die nur Dascha genannt wird, auf der Gymnastikfläche. Dort übt sie, seit sie drei Jahre alt ist. „Meine Mutter war auch schon Gymnastin“, erzählt sie, „sie wollte, dass ich ihre Karriere fortsetze. Deshalb hat sie mich in die Turnhalle mitgenommen.“

Schon einmal hat Darja Varfolomeev sprachliche Hürden gemeistert. Vor fünf Jahren war sie aus Russland nach Deutschland übergesiedelt und direkt ins Internat am Gymnastik-Stützpunkt Schmiden gezogen. Ganz allein. „Der Anfang war schon sehr schwer in einem fremden Land ohne Familie und ohne die Sprache zu sprechen“, sagt sie rückblickend. Die Großeltern, die in Aschaffenburg leben, sind nur ab und zu gekommen. Aber Varfolomneev hatte das klare Ziel, „mich in meinem Sport auch in Deutschland zu verbessern“. RSG-Teammanagerin Isabell Sawade sagt: „Daschas Wille ist wahnsinnig stark.“ Aber auch der Trainingsfleiß. Häufig übt sie länger als auf dem Trainingsplan steht.

Wille und Nervenstärke zeichnen Darja Varfolomeev aus. „Dascha hat keine Angst neue Sachen auszuprobieren“, erklärt Trainerin Yiulia Raskina, „sie nimmt das Risiko mit kühlem Kopf.“ Selbst in den wichtigen Wettkämpfen bliebe sie klar im Kopf und hoch konzentriert. „Darja turnt ruhiger als ihre Konkurrentinnen. Deswegen werden ihre Übungen höher bewertet“, sagt Raskina. Diese Coolness zeigte sie schon vor einem Jahr bei ihrer ersten Teilnahme an Weltmeisterschaften. Am Ende gewann sie Gold mit den Keulen gewonnen. Als erste Deutsche nach 47 Jahren.

„2022 war alles spielerischer. Da haben wir uns die Frage gestellt: Wo sind wir?“, sagt Raskina, die im Januar vom Landessportverband Baden-Württemberg als „Trainerin des Jahres“ ausgezeichnet worden war. Und fährt dann fort: „In diesem Jahr war alles schon ernster, da war schon auch ein wenig Druck da. Den habe ich versucht rauszunehmen.“ Mit Erfolg, wie die Ausbeute von den Titelkämpfen in Valencia zeigt.

Dadurch hat sich der Druck noch einmal erhöht. Schließlich finden im kommenden Jahr die Olympischen Spiele in Paris statt. Raskina, die bei den Spielen 2000 Silber im Mehrkampf gewonnen hat, erklärt ihre Herangehensweise: „Wir konzentrieren uns nicht auf Plätze oder Medaillen. Wir fragen uns: Was können wir besser machen? Wir machen, was wir können, dann kommen die Ergebnisse von ganz allein.“

Um noch besser zu werden, studiert das Duo Raskina/Varfolomeev zwei neue Übungen mit etwas höheren Schwierigkeiten und mehr Risiko ein. Mit welchen Geräten? „Das verrate ich nicht“, sagt die Turnerin. Zeit genug hat sie dafür, denn in der Schule pausiert sie ein Jahr. Damit will sie die Doppelbelastung Olympiavorbereitung und Mittlere-Reife-Prüfungen umgehen.

Wenn es um Zeit, vor allem Trainingszeit geht, schaut die aus Belarus stammende Raskina in Ihr Heimatland. Oder nach Russland. „Dort liegen die Trainingszeiten um etwa 40 Prozent höher“, berichtet sie. Dabei legt ihr Schützling Varfolomeev gerne unaufgefordert auch eine Extraschicht ein. Und darüber hinaus? „„Die Bedingungen am Bundesleistungszentrum in Schmiden mit den vier Bodenflächen und der Ausstattung sind gut“, sagt die Übungsleiterin, „in Europa sind es die besten.“ Im Nachgang allerdings fügt sie an: „Allerdings gibt’s im Trainingszentrum in Belarus elf Bodenflächen.“

In der Zwischenzeit kann Darja Varfolomeev nicht nur perfekt Deutsch sprechen, sondern sie lebt auch nicht mehr im Internat. Vor einem Jahr war ihr Vater Dimitri samt Hund Torri nach Schmiden gezogen. Mit dem Chau Chau geht sie gerne spazieren, außerdem malt sie gerne. Zu mehr Hobbies bleibt keine Zeit.

Gerne würde die junge Sportlerin einen Gymnastik-Boom auslösen, so wie dies vor 20 Jahren auch schon Magdalena Brzeska gelungen ist. Wenn Darja Varfolomeev dann über die Faszination ihrer Sportart erzählt, leuchten ihre Augen: „Es ist die Kombination aus Tanz und Gerätetechnik und wie sich das alles verbinden lässt.“ Bei ihr zumindest perfekt.