Im Rahmen der Trainerfortbildungen des Landessportverbandes Baden-Württemberg (LSVBW) lautete das Thema des zweiten Moduls „Der Mythos der Unverwundbaren? Mediale Berichterstattung über psychische Gesundheit im Spitzensport“. In einem interaktiven Workshop zeigten Marcia Harpig und Jannika John vom Institut für Sportwissenschaften an der Universität Tübingen Beispiele der medialen Darstellung von mentaler Gesundheit und psychischen Erkrankungen im Spitzensport.
„Unverwundbare Helden sind Schnee von gestern – Schwäche zugeben die neue Stärke“, so lautete die Überschrift in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung im Jahr 2022 über die Offenlegung mentaler Probleme prominenter Sportlerinnen und Sportler und zitiert Sven Hannawald, Simone Biles und Naomi Osaka. Sie haben in den vergangenen Jahren für Aufsehen gesorgt, jedoch nicht (nur) durch ihre sportlichen Leistungen, sondern vielmehr durch ihren Mut abseits des Wettkampfs. Den Mut, für sich einzustehen und dafür auf große Turniere zu verzichten. Sich öffentlich verwundbar zu zeigen. Dadurch wurden sie zu Leitfiguren eines Kulturwandels im Spitzensport, der mehr Menschlichkeit einfordert.
Kaum eine andere Kultur ist so stark auf das reine „Funktionieren“ des Körpers ausgerichtet wie der Spitzensport. Das idealisierte Bild des heroischen Athleten, der sich bedingungslos dem Sport hingibt, ist eng mit dem traditionellen Selbstverständnis der Sportkultur verknüpft. Perfektion wird vorausgesetzt, Erfolg mit Unverwundbarkeit verwechselt. Für individuelle emotionale Bedürfnisse, Zweifel oder Unsicherheit bleibt oft wenig Raum in einer Kultur, die es belohnt, die eigenen Grenzen zu übergehen, anstatt sie anzuerkennen. Doch ist es nicht gerade die Akzeptanz und der offene Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit, die einen Menschen stark macht?
Einen Mythos umschreiben?
Nach Erkenntnissen der Sportsoziologie hat dieses Bild des unverwundbaren Athleten lange Zeit das gesellschaftliche Verständnis von Stärke und Schwäche im Spitzensport geprägt und damit die öffentliche Wahrnehmung und das Bewusstsein für psychische Gesundheit im Sport in den Hintergrund gedrängt. Insbesondere der Sportjournalismus hat durch die Glorifizierung vermeintlicher „Heldentaten“ – etwa das Spielen unter großen Schmerzen oder mit Verletzungen – wesentlich dazu beigetragen, den Mythos des unverwundbaren Athleten in der Gesellschaft zu kultivieren. Erst der mutige Schritt einiger prominenter Sportlerinnen und Sportler, öffentlich über mentale Probleme zu sprechen, hat einen Wandel in der Berichterstattung angestoßen und dazu geführt, dass sich die Medien zunehmend mit ihrer Verantwortung auseinandersetzen – nicht nur gegenüber den Betroffenen, sondern auch gegenüber der Gesellschaft insgesamt.
„Das Bild des vor Kraft strotzenden, unverwundbaren Athleten – passé.“
Als eine der bedeutendsten Informationsquellen spielen die Medien eine zentrale Rolle Nur noch Zuschauerin aus Sorge um ihre psychische Gesundheit: US-Turnerin Simone Biles bei den Olympischen Spielen in Tokio. Foto: picture alliance/NurPhoto dabei, wie kontrovers diskutierte oder sensible Themen öffentlich verhandelt werden – und welche Narrative sich durchsetzen. So kann die Art und Weise, wie psychische Erkrankungen im Spitzensport medial dargestellt werden, wesentlich zur Entwicklung eines differenzierteren Verständnisses von psychischer Gesundheit in der Gesellschaft beitragen.
Mit Titeln wie „Schwäche zeigen dürfen“, „Hinschauen hilft“ oder „Ein Vorbild für Mut“ positionieren sich einflussreiche Tageszeitungen wie beispielsweise die Frankfurter Allgemeine oder die Süddeutsche Zeitung seit einigen Jahren mehrheitlich für mehr Sensibilität und Rücksichtnahme, wenn es um das Thema psychische Erkrankungen im Spitzensport geht. Das Verständnis von Stärke wird neu verhandelt, das Bild des Helden neu definiert. So stand beispielsweise in der Süddeutschen über den überraschenden Rücktritt von Turn-Superstar Simone Biles bei den Olympischen Spielen 2021 in Tokio: „Simone Biles hat die Mentalität eines wahren Champions bewiesen. Mit ihrem Rückzug hat sie ein Statement abgegeben, das so stark ist wie jede ihrer sportlichen Leistungen.“
Indem die Medien nicht nur vermehrt über betroffene Athletinnen und Athleten berichten, sondern deren Stimmen auch aktiv verstärken, eröffnen sie den Raum für neue Perspektiven und schaffen dadurch die Grundlage für tiefgreifende Veränderungen im Sportsystem und in der Gesellschaft. Das Tabu wird zur Titelstory, ein vermeintliches Scheitern zur Inspiration. So spiegeln, verändern und prägen die Medien den öffentlichen Dialog über psychische Erkrankungen und sensibilisieren für einen achtsameren Umgang mit der eigenen Verletzlichkeit, der uns langfristig zu einem menschlicheren Miteinander führen kann – im Spitzensport und darüber hinaus.