Die Schweizerin Natalie Barker-Ruchti ist an der Universität Orebro (Schweden) Professorin für Sportmanagement und Sportcoaching. In ihrer Heimat hat die Sportwissenschaftlerin nach dem Missbrauchs von Turnerinnen und Gymnastinnen am Leistungszentrum in Magglingen am Ethik-im-Sport-Projekt mitgewirkt.

Frau Barker-Ruchti, wie kam’s dazu, dass Sie bei Swiss Olympic im Projekt „Ethik im Sport“ mitarbeiten?

Nach dem Dokumentarfilm „Athlet A“ über den Missbrauch an US-Turnerinnen haben acht Schweizer Turnerinnen und Gymnastinnen einen Missbrauchsskandal am nationalen

Leistungszentrum Magglingen publik gemacht. Diese „Magglingen Protokolle“ waren der Start für die Initiative für des neue Ethikstatut, die Schaffung der unabhängigen Meldestelle, Swiss Sport Integrity und die Umsetzung von Ethik in das Schweizer Sportsystem durch das Ethik-im-Sport-Projekt. Jetzt steht im Schweizer Sport das psychische, physische und soziale Wohlbefinden aller involvierten Menschen an erster Stelle.

Können Sie erklären, warum es bei den Turnerinnen in Magglingen erst den Dokumentarfilm über die Missbräuche in den USA bedurft hat, dass sie an die Öffentlichkeit gehen?

Eine Gymnastin hat ihre Eltern gebeten, nichts zu sagen, weil sie sonst befürchtete von den Trainern bestraft zu werden. Eine Turnerin hatte bei ihrem Trainer über Schmerzen in der Hüfte, die sie jeden Tag mit zwei Schmerztabletten zu unterdrücken versuchte, geklagt. Die sagte zu ihr: „Die Schmerzen sind im Kopf, du musst zu einem Psychologen, nicht zum Arzt.“ Als alles öffentlich war, stellte sich diese Turnerin auch genau diese Fragen: „Warum habe ich das mit mir machen lassen? Warum bin ich nicht gegangen?“

Hat sie darauf auch eine Antwort gehabt?

Ja, aber diese ist bedrückend: „Ich empfand es als normal und war es nicht anders gewohnt!“

Haben Sie eine Erklärung für diesen Machtmissbrauch?

Im Sport gilt oft die Devise ‚no pain no gain‘ oder, das fortwährende ans Limit gehen. Trainerinnen und Trainer sehen es in ihrer Pflicht, ihre Athletinnen und Athleten über diese Limite zu puschen, wenn es sein muss, mit Gewalt. Die psychische Gewalt, in der Form von Schreien, Manipulieren und Demütigungen, bietet die Grundlage für alle anderen Gewaltformen. Begünstigt wird dies speziell im Kunstturnen durch das junge Alter der Turnerinnen, das Leistungssportniveau, die oft geringe Mannschaftstiefe und den Umstand, dass die Turnerinnen weg von ihrem Zuhause wohnen.

Haben Sie Unterstützung durch die Politik erfahren?

Für die diesjährige Bundespräsidentin Viola Amherd war es nicht vertretbar, öffentliche Gelder in einen Sport zu geben, der jungen Menschen schadet. Sie äußerte sich dahingehend: „Ja, wir wollen Leistungssport. Aber nicht um jeden Preis!“

Im Schweizer Sport wurde ein Ethik-Kompass eingeführt. Wie funktioniert der?

Zunächst haben wir eine gemeinsame Sprache unter dem Titel MIND – Macht – Ideale – Nähe – Druck entwickelt. Oder in Fragen: Wie Macht reflektieren und teilen? Wie Ideale erkennen und hinterfragen? Wie Nähe gestalten und begrenzen? Wie Druck verantworten und limitieren?

Zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?

Wir haben dies in vier Farben umgesetzt: grün bedeutet würdevoll, grau irritierend, orange außerordentlich und rot verdächtig. Übersetzt bedeutet dies: bei Orange und Rot müssen Vorfälle bei Swiss Sport Integrity gemeldet oder bei der Polizei oder Strafanwaltschat angezeigt werden. Bei Grau muss die Situation kritisch reflektiert und umsichtig besprochen werden und bei Grün weiter wachsam sein und die Menschen weiter gestärkt werden.

Wie haben die Sportverbände reagiert?

Es kam zu einem Turn. Dieser kam unerwartet, wegen eines Skandals. Die Sportorganisationen waren mit harter Kritik konfrontiert und der Druck, eindeutig zu reagieren, war groß. Das an Einzelpersonen adressierte Fehlverhalten hat viele verunsichert und sogar verängstigt. Gerade von Trainerinnen und Trainern hören wir, dass sie das Gefühl haben, unter Generalverdacht zu stehen.

Lässt sich dieses Modell auch auf andere Länder übertragen?

Wenn man wollte, dass die Arbeit des Schweizer Ethik im Sport Projektes auf den Sport in anderen Ländern übertragen werden sollte, dann ist die Ausgangslage durchaus ähnlich. Meiner Meinung ist die Präventionsarbeit, so wie wir sie in der Schweiz umsetzen, relevant für andere Länder, wie zum Beispiel Deutschland.

Und wie verhält es sich in Schweden, wo sie momentan an der Universität Örebro tätig sind?

Da fehlt im Moment leider der nötige Antrieb sich diesem Thema anzunähern.