Das Gehirn steuert alle Bewegungen des Körpers. Über Neuroathletiktraining werden verschiedene Szenarien simuliert, dass die Informationen schneller zwischen Muskeln und Gelenken sowie Gehirn fließen können. Wie dies funktioniert, hat Tilla Armstrong vom Olympia-Stützpunkt Metropolregion Rhein-Neckar in einem Modul beim Landestrainer-Hauptseminar vorgestellt.

Frau Armstrong, was verbirgt sich hinter dem Begriff Neuroathletiktraining?

Neuroathletiktraining ist das Training fürs Gehirn. Bisher wird im Training darauf geschaut, dass am bewegungssteuernden

System, dem Körper mit Muskeln, Sehnen, Bändern und Gelenken gearbeitet wird. Allerdings funktioniert der Körper nur dann, wenn er die Signale vom Gehirn bekommt. Denn im Gehirn wird die Bewegung programmiert. Ich erkläre dies gerne mit folgendem Bild: Wenn das Gehirn unser Dirigent ist, dann ist der Körper das Orchester, das nach den Kommandos des Dirigenten spielt. Ich sage aber jedem Sportler gleich zu Beginn unserer Zusammenarbeit, dass dich der neurozentrierte Ansatz allein nicht zum Weltmeister werden lässt. Es ist ein zusätzlicher Baustein, der das normale Training unterstützt.

Wie kommt es zu den Kommandos?

Egal ob im Sport oder im Alltag – der Entschluss, sich zu bewegen, bekommen wir von unseren Sinnesorganen und aus unserer Interozeption, also den inneren Sensoren unseres Körpers.

Von welchen?

Zum einen dient das Auge als äußeres Sinnesorgan als wichtige Informationsquelle, aber auch das Gleichgewichtsorgan im Innenohr hilft bei der Orientierung. Auch die Haut kann als größtes Organ Reize aufnehmen und weiterleiten. Aber auch über das propriozeptive System, also die Gelenksensoren, werden Informationen geliefert. Wenn wir zum Beispiel auf einer Kante umknicken, meldet das Sprunggelenk dem Gehirn dass dies eine gefährliche Situation ist. Im besten Fall erkennt das Gehirn die Gefahr und reagiert sofort mit einer schützenden Bewegungsantwort.

Diese Ansteuerung der Muskulatur und Gelenke lässt sich durch gezieltes Training beschleunigen?

Im neurozentrierten Ansatz will man dem Gehirn über die Sinneseindrücke viele gute Informationen liefern, damit der Körper Bewegungen optimal ausführen kann. Reagiert der Fuß beim Umknicken nicht sofort mit einer Gegenbewegung, bedeutet dies, dass die Bewegungsantwort vom Gehirn fehlerhaft ist oder überhaupt nicht gesendet werden kann. Vielleicht kennt das Gelenk diese Position überhaupt nicht. Unbekannte Positionen sind wie schwarze Flecken im Gehirn.

Wie reagiert das Gehirn?

Unzureichende oder schlechte Informationen sind fürs Gehirn prinzipiell immer Gefahren. Das Gehirn möchte Sicherheit, bei Unsicherheit geht es in den Schutzmodus. Schutz durch Muskelanspannung, Schutz durch Hochfahren des Herz-Kreislauf-Systems. Das macht es ganz instinktiv. Ich will mit meiner Arbeit versuchen die Informationen so gut und so vielfältig zu machen, dass das Gehirn sich sicher fühlt und optimal arbeiten kann.

Bedeutet dies, dass sie verschiedene Szenarien im Vorfeld simulieren, die vielleicht irgendwann eintreten können?

Im Sport ist das eine Verletzungsprävention, durchgeführt in kontrolliertem Rahmen. Das Gehirn lernt mit Situationen besser umzugehen, gegenzusteuern, sobald Gefahr droht.

Kann dieses Neuroathletiktraining in allen Sportarten eingesetzt werden?

Definitiv. Ich arbeite mit den verschiedensten Athleten, mit Individualsportlern und in Mannschaftssportarten, ich arbeite auch mit blinden Sportlern. Normalerweise bekommen wir 80 Prozent aller Informationen über die Augen. Das heißt, ihnen fehlt ein ganz wichtiger Informationsweg. Blinde sind darauf angewiesen andere Informationsquellen maximal hochzufahren – das Tastempfinden ist extrem gut, das Gehör fällt oftmals viel schärfer aus. Wenn man generell diese Systeme hochfährt, kommt dies in jedem Sport zum Tragen.

Wie muss man sich ein Neuroathletiktraining vorstellen?

Prinzipiell muss man unterscheiden, ob ein Sportler mit einer Verletzung kommt, ob er ein technisches Problem hat oder ob er generell schauen will, in welchen Bereichen er noch Defizite hat, wo er noch nacharbeiten kann, um noch schneller zu werden, weiter oder höher zu springen oder zu werfen. Zunächst wird eine Diagnostik mit neurozentrierten Tests bezogen auf die jeweilige Sportart durchgeführt. Für einen Mehrkämpfer sieht dieser anders aus als für einen Basketballer. Neben den drei großen Informationssystemen (Sehen, Gleichgewicht und Propriozeption, die Redaktion) werden zusätzliche Tests gemacht, um ein gesamtheitliches Bild zu bekommen. Daraufhin wird dann das Training gestaltet.

Dazu müssen Sie nicht nur mit dem Athleten, sondern auch mit dem Trainer zusammenarbeiten?

Optimalerweise arbeite ich mit Athlet und Trainer gezielt zusammen. So ist durch viele Wiederholungen meiner Übungen eine langfristige und anhaltende Verbesserung der Ziele sichtbar. Beim spezifischen Training dabei zu sein hilft mir die Sportart zu verstehen. Gleichzeitig kann ich besser dem Trainer und Athleten erklären, weshalb Übungen sinnvoll sind, auch wenn sie erstmal ziemlich abgefahren aussehen.

Was sind das für Übungen?

Manchmal halte ich den Sportlern einen vibrierenden Stab an den Kiefer oder lasse sie eine Augenklappe anziehen. Da gehört schon das Verständnis dazu, warum ich das mit ihnen mache.

Erklären Sie.

Das Kiefergelenk wie auch die Zunge sind extrem wichtig für die Stabilisation des gesamten Körpers. Die Vibration direkt am Kiefergelenk wirkt sofort auf das Gleichgewichtssystem. Dies bringt, wenn der Sportler auf der einen Seite instabil ist, kurzfristig einen Effekt. Mit meinen Übungen fahre ich das Gehirn genau dort hoch, wo das Defizit liegt. Das Ganze hält zwischen zwei und vier Minuten. Danach ist der Sportler wieder auf dem Stand von davor. Durch viele Wiederholungen passt sich unser Gehirn dann an.

Aber Sie können doch nicht in jedem Training vor Ort sein?

Deshalb ist es wichtig, sowohl den Athleten wie auch den Trainer mit im Boot zu haben. Die Schwimmer machen z.B. im Wasser zum Warm-up Übungen die ihr Kleinhirn, das für die Koordination von Bewegungen zuständig ist, aktivieren. Auch in Technikeinheiten werden meine Übungen vom Trainer mit eingebaut.

Kennen Sie sich in allen Sportarten und Disziplinen aus?

Wenn Sportler aus Sportarten zu mir kommen, die ich noch nicht so kenne, dann muss ich mich da auch erst einmal reinarbeiten. Für mich ist wichtig zu wissen, wie die Endbewegung ausschaut? Was sind die sportartspezifischen Anforderungen? Wenn ich zum Beispiel mit einer Kugelstoßerin arbeite, dann muss ich nicht nur verstehen, wie die Kugel am Ende von der Hand fliegt, sondern ich muss den gesamten Bewegungsablauf aufeinander aufbauen können, um zu sehen, wo noch ein kleiner Bereich ist, den wir verbessern können, bei dem wir die Bewegung noch ein bisschen genauer, noch zielführender machen können. Oder wo sind Schmerzen oder Einschränkungen, die die Endbewegung limitieren?

Kommt auch der mentale Bereich mit ins Spiel?

Interdisziplinär arbeite ich mit Psychologen, die mit den Sportlern im mentalen Bereich trainieren. Denn auch Emotionen und Gedanken entstehen im Gehirn und sind letztendlich Bewegung. Die interdisziplinäre Arbeit mit dem Verständnis für die Übungen und Möglichkeiten des Athleten aber auch des Trainers diese selbständig zu trainieren für schließlich zum größten Erfolg der Methode.

Das ist dann wie beim Lernen in der Schule.

Richtig. Im Bewegungslernen gibt es schon sehr interessante Forschungsergebnisse. Jegliche Form von körperlicher Bewegung hilft uns schneller im Gehirn Verknüpfungen zu erstellen und viel schneller in Lernprozessen zu sein. Warum Bewegung auch für die Schüler so wichtig ist, kommt in der Zwischenzeit auch schon in der Schule an. Es ist deutlich schneller und einfacher über Bewegung zu lernen wie alles Andere.

Der ehemalige Skifahrer Felix Neureuther hat sich als Gehirntraining Bälle zuwerfen lassen und je nachdem, welche Zahl ihm genannt wurde, musste er diese auf unterschiedliche Art fangen. Er nannte es Life Kinetik.

Life Kinetik arbeitet sehr nahe an dem, was auch wir machen. Im Neuroathletiktraining Ansatz arbeiten wir aber auch spezifisch an Defiziten. Wäre Felix Neureuther damals zu mir gekommen, hätte ich zusätzlich zu den Life-Kinetik-Übungen seine subklinischen Defizite angeschaut und diese versucht zu optimieren. Diese können aufgrund von alten Verletzungen, technischen Schwierigkeiten oder andere sportartspezifische Anforderungen einziehen. Gerade bei Outdoorsportarten werden ans visuelle System verrückte Anforderungen gestellt. Die müssen auf einer Strecke wechseln können zwischen verschiedenen Lichtverhältnissen, verschiedenen Untergründen.

Sie bereiten die Athleten also auf Unvorhergesehenes vor?

Ja, zum Beispiel einer Verletzungsprävention. Schaut man sich Leistungssportler an, sind sie sehr gute Spezialisten in ihrer Sportart. Aus der sport- und therapiewissenschaftlichen Forschung weiß man, dass sich vielfältig zu bewegen und dem Hirn verschiedene Informationsquellen zu geben wichtig ist. Wenn man über Jahre dieselbe Strecke joggt oder dieselben Jogaübungen macht, dann ist das keine Bewegungsleistung mehr. Dann ist man Profi in seinen Bewegungen. Das bedeutet, dass die Athleten gut in ihren Endbewegungen sind, aber sobald diese Endbewegung nur minimal abweicht, egal ob bei einem Leichtathleten oder bei einem Ballsportler, wird dies möglicherweise in einer Verletzung enden oder wird der Körper so reagieren, dass er sich schützt, aber kurz- oder langfristig nicht mehr seine Leistung erbringen kann.

Das Gehirn will also den Körper schützen.

Richtig, das Gehirn ist immer auf Sicherheit aus. Unser Gehirn ist zwar ultrakomplex, arbeitet aber megaeinfach. In allem, was es tut, will es immer Sicherheit gewährleisten. Dem Gehirn ist es egal, wie schnell ich laufe, wie weit ich springe. Ihm ist nur wichtig: Bin ich sicher oder nicht? Wenn sich unser Gehirn unsicher fühlt, wird es immer mit angezogener Handbremse Bewegungen ausführen.

Lässt sich das Gehirn überlisten?

Kurzfristig können wir Sicherheit vorgaukeln, irgendwann wird das System aber doch reagieren und in den Schutzmodus gehen.