
Beim „Internationalen Frauenschwimmen“ im Inselbad in Nürtingen-Zizishausen werden seit neun Jahren regelmäßig die Vorhänge zugezogen und ausschließlich weibliche Aufsichtspersonen eingesetzt. Für die Teilnehmerinnen ist der Termin längst unverzichtbar geworden. Mittlerweile geht es um mehr als ein bisschen Badespaß.
Als Alexandra Bidmon an einem Samstagnachmittag vor neun Jahren im Inselbad ins Wasser sprang und ihre Bahnen zog, fühlte sich das für sie an wie ein erstes Mal. Schon als Kind und junge Frau war sie häufig und gerne im Schwimmbad. Doch vor rund 25 Jahren ist sie zum Islam konvertiert. Da der Koran sagt, dass Frauen ihren Körper vor Männern bedecken sollen, kam ein Schwimmbadbesuch nicht mehr ohne Weiteres infrage. Bis zu diesem Samstagnachmittag in Nürtingen-Zizishausen.
„Ich bin ins Wasser eingetaucht und habe mich einfach frei und wohlgefühlt“, sagt die 52-Jährige. Sie ist eine Teilnehmerin der ersten Stunde des „Internationalen Frauenschwimmens“, das Frauen, Mädchen und Jungen bis acht Jahre eine eigene Schwimmzeit ermöglicht. Wie ihr geht es Dutzenden anderen Teilnehmenden, die regelmäßig zum „Internationalen Frauenschwimmen“ ins Inselbad kommen. Alle zwei Wochen werden die Fensterfronten mit Vorhängen verhangen, damit Frauen aus aller Welt unbeobachtet und ungestört schwimmen können. Alexandra Bidmons drei Kinder haben hier das Schwimmen erlernt. Sie selbst ist bis heute treue Besucherin. Umso schwieriger seien die anderthalb Jahre gewesen, in denen das Schwimmen aufgrund von Corona nicht möglich war. Im Oktober 2021 gelang der Neustart. Dass das Projekt nach neun Jahren so erfolgreich dasteht, hätte wohl niemand gedacht.
Entstehung und Entwicklung
Möglich macht das nicht zuletzt Amina Ramadan, Sozialpädagogin im Einsatz der BruderhausDiakonie für den Fachdienst Jugend und Migration. Ramadan erzählt mit Stolz in der Stimme von der positiven Entwicklung. Gemeinsam mit vier Multiplikatorinnen einer muslimischen Frauengruppe war sie mit dafür verantwortlich, dass das Projekt des Frauenschwimmens in Nürtingen 2013 umgesetzt werden konnte. „Der Wunsch nach einem Schwimmangebot für muslimische Frauen und andere, die in geschützter Umgebung baden gehen wollten, war groß. Es hat aber gedauert, bis wir es umsetzen konnten.“ Einige Hürden mussten überwunden werden.
In Nürtingen standen einige der Idee eines Frauenschwimmangebotes für muslimische Frauen skeptisch gegenüber. Auch ein geeignetes Schwimmbad und eine Möglichkeit der Finanzierung musste gefunden werden. Monate zogen ins Land. Der damalige Präsident des Landessportverbandes Baden-Württemberg e.V. (LSVBW), Dieter Schmidt-Volkmar, ließ seine Kontakte spielen und stellte sich auf die Seite von Ramadan und ihrer Frauengruppe. Zusammen konnten sie die Stadt und die Bäderabteilung der Stadtwerke überzeugen. Als „Internationales Frauenschwimmen“ wurde das Angebot erstmals umgesetzt. Viele muslimische Frauen, aber auch andere Interessierte nutzten die exklusive Schwimmzeit. „Von Anfang an war klar, dass es kein kostenloses Angebot wird“, sagt Ramadan. „Die Frauen und ihre Kinder zahlen den regulären Eintrittspreis.“
Mussten zu Beginn noch Mitarbeiterinnen der Bäderabteilung die Aufsicht führen, sprang schnell der Förderverein des Zizishäuser Inselbads und die Deutsche Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) Ortsgruppe Nürtingen zur Seite und organisierte Übungsleiterinnen.
Fortan bildeten sich immer am Samstagnachmittag lange Warteschlangen. Frauen und Kinder, die es kaum erwarten konnten, endlich wieder ins kühle Nass zu springen. Etwa 50 bis 60 Personen waren es da noch.
„Die wunderbare Atmosphäre im Schwimmbad, das ist mit Worten kaum zu beschreiben“, schwärmt Ramadan. Die Frauen würden im Element Wasser förmlich aufblühen, die Wasserzeit bis zuletzt auskosten. Und die Kinder nutzten Sprungbrett und Sprungturm, um sich auszutoben.
Bikini, Badeanzug, vereinzelt auch Burkinis, die Badekleider muslimischer Frauen – im Rahmen der Hygienevorschriften darf jede eben das tragen, worin sie sich wohlfühlt. Es gebe auch deutsche Frauen, die nicht in der Öffentlichkeit baden gehen wollen, etwa stark beleibte oder schüchterne. Ramadan sagt: „Zu diesen Zeiten sollen Frauen zwar unter sich, nicht aber abgeschottet nach Herkunftsländern oder Religionen sein.“ Sie ist überzeugt davon, dass Freizeitangebote wie dieses das Miteinander fördern. Für die Teilnehmerinnen wird das Inselbad für eine festgelegte Zeit von zwei Stunden zu einem geschützten Raum der Begegnung. Ein Raum, in dem sie unbeschwert sein können, Selbstwertgefühl steigern und Selbstbewusstsein erlangen können.
An manchen Samstagen kamen dann allerdings bis zu 100 Personen – mangels Alternativen reisten diese auch aus Stuttgart, Reutlingen, Göppingen und anderen Städten eigens an. Bislang kamen mehr als 300 Frauen und etwa 500 Kinder.
Weiterhin große Nachfrage
Mit den Erfahrungen der vergangenen Jahre haben die Projektverantwortlichen dazugelernt: Seit Herbst 2021 ist das Schwimmen nach der Coronapause zurück – und auf 40 Personen begrenzt.
Das liegt auch daran, dass sich das Interesse der Teilnehmerinnen verändert hat. Die Lust auf Neues, auf das tiefere Wasser, hat im Laufe der Zeit dazu geführt, dass sich immer mehr Frauen für das Schwimmenlernen und den sportlichen Aspekt interessiert haben. Ivana Serka, eine Kollegin Ramadans, ermöglicht seit kurzem innerhalb der Schwimmzeit Aquafitness.
Es wurde zudem eine Gruppe eingerichtet, in der der Fokus mehr auf dem Lernen liegt. „Das Frauenschwimmen ist wie ein großer Freundinnentreff“, sagt Kerstin Peppel, Leiterin Ausbildung bei der DLRG Nürtingen. „Dennoch haben wir Trainerinnen gestellt, Schwimmkurse und auch Rettungsschwimmerkurse angeboten.“ Immerhin zwei Frauen haben die Rettungsschwimmerausbildung erfolgreich absolviert.
Den Ansatz einer Anbindung an den Sportverein verfolgen Ramadan, Peppel und ihre Helferinnen zudem. Auch wenn bislang noch nicht viele Frauen oder Kinder aus der Gruppe zu Vereinsmitgliedern geworden sind, liegen die Vorteile auf der Hand, die eine Begleitung durch den Verein im Sinne der Integration hätte – für alle.
Aktuell findet das Frauenschwimmen wieder alle zwei Wochen samstags von 16.30 bis 18.30 Uhr statt. Das funktionierende Netzwerk in Nürtingen ist die Basis für den Erfolg. Während die Schwimmabteilung der TG Nürtingen sich um Formalitäten wie die Hallenbadreservierung, Sachberichte und Finanzen kümmert, steht Ramadan im Austausch mit der DLRG, verteilt die Dienste und kommuniziert Termine an die Frauengruppe. Mit ihrer Kollegin Serka und den ehrenamtlichen Multiplikatorinnen organisiert sie den Ablauf, inklusive Eintrittskasse und obligatorischer Reinigung des Schwimmbads nach Badeschluss. Die finanzielle Förderung ist die zweite Säule, auf der das Projekt steht. Die Miete für das Bad sowie Kosten für die Badeaufsicht übernimmt der LSVBW. Bei der Koordination und Betreuung steht auch der Schwimmverband Württemberg immer zur Seite.
Seit einigen Jahren zählen Ramadan und ihre Frauen auf „Willkommen im Sport“ (WiS). Dieses Förderprojekt setzen Landessportbünde seit 2015 gemeinsam mit dem Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) um. Seit dieser Zeit werden die Schwimmangebote immer mehr mit Frauen und Kinder nmit Fluchterfahrungen aufgesucht. Amina Ramadan ist überzeugt, dass das Angebot als Best-Practice-Beispiel dienen und im Bundesland Baden-Württemberg weitaus häufiger umgesetzt werden könnte.
Das Schwimmen für Frauen in Nürtingen wird nach wie vor rege angenommen – und ist nach der entbehrungsreichen Pandemiezeit, in der viele Menschen mit Einsamkeit zu kämpfen hatten, wichtiger denn je. Und so verwandelt sich das Bad nach wie vor regelmäßig am Samstagnachmittag von der Sportstätte zum trubeligen Badetempel. Für die einen ist das Inselbad ein simples Schwimmbad mit fünf Bahnen, Sprungbrett und Sprungturm. Für Teilnehmerin wie Alexandra Bidmon und ihre Mitstreiterinnen ist es ein Raum, der Freiheit, Unbeschwertheit und Lebensqualität schafft.