Der Boxverband Baden-Württemberg hat in der Corona-Pandemie für sich und seine Vereine ein Konzept mit Vorbildcharakter entwickelt.

Bereits Wochen zuvor hatte Oliver Vlcek so ein mulmiges Gefühl im Bauch. Eine Ahnung, dass da etwas kommen könnte. Vlcek erinnert sich genau an den Tag, an dem sich dann alles änderte. Es war am 26. Februar – und damit zwei Wochen vor den tiefgreifenden Corona-Maßnahmen in Deutschland – als der Olympiastützpunkt (OSP) -Trainer des Boxverbandes Baden-Württemberg (BVBW) eine Nachricht versandte, die sich als weitsichtig erweisen sollte: „Wir müssen eine Taskforce gründen“, schrieb er an seine Vorstandskollegen. Sinnfragen wurden diskutiert, doch die meisten hatten bereits da verstanden: Der Sportverband musste sich für eine nie dagewesene Herausforderung rüsten.

Vlcek ist seit 1998 Boxtrainer, heute BVBW-Vorstandsmitglied und Ehrenpräsident in seinem Heimatverein Boxing Villingen-Schwenningen. Es war nicht nur ein Bauchgefühl, das Vlcek leitete. Gegenüber anderen baden-württembergischen Sportfachverbänden hatte er einen Informationsvorteil. Er stand in Kontakt mit Adem Kartal, Ressortleiter Nachwuchs des BVBW. Kartal hatte im Januar ein Auslandspraktikum in China absolviert und ihn über das Corona-Virus informiert. „Wir konnten uns früh Gedanken machen, wie wir das Boxtraining im Notfall aufrechterhalten“, sagt Vlcek. Es bedurfte Antworten darauf, ob und wie man eine Kontaktsportart wie Boxen auf Distanz ausüben kann. Sie fanden welche.

Konzepte statt Sinndiskussionen

Anfang März setzte der BVBW alles auf Null. Die für das Jahr vorgesehenen Großveranstaltungen wurden nach und nach abgesagt – unter anderem die Landesmeisterschaften. Im April dann die Absage des internationalen Jugendturniers „Black Forest Cup“, für das sonst bis zu 400 Teilnehmer aus dutzenden Nationen anreisen. Schnell aber folgte die Phase der Gestaltung. „Wir wollten aus den Gegebenheiten das Beste für unsere Vereine und Sportler herausholen“, sagt Vlcek.

Die erste Grundsatzentscheidung war es, zunächst ein Angebot für Kaderathleten zu schaffen. Statt allein auf Athletik- oder Ausdauer-Training zu setzen, erarbeiteten Landes- und Bundesstützpunkttrainer eine Strategie für Techniktrainings – eine, die per Videokonferenz umsetzbar war. Das Pilotprojekt startete Anfang März im Landesstützpunkt in Schwenningen. Zweimal pro Tag schalteten sich Athletinnen und Athleten zu. Die Trainer korrigierten per Videostudium die Technik und Bewegungsabläufe. „Wir haben einen Trainingswissenschaftler zugeschaltet, der mit uns Trainingspläne und die Videos analysiert hat“, sagt Vlcek. „Wir wollten es wenn, dann richtig machen.“ Immer wieder wurde justiert, Leistungsgruppen entstanden. Bis zu 35 Top-Athleten aus dem Internat sowie den Kadern am Bundesstützpunkt und am Landesstützpunkt Baden-Württemberg konnten auf diese Weise trotz des Shutdowns, wie Vlcek die Corona-Einschränkungen nennt, betreut werden. Während der Alltag stillstand, arbeitete die Taskforce im Turbogang.

Verbandspräsident Uwe Hamann, dessen Stellvertreter Dirk Regenscheit und Sportdirektor Vlcek sendeten immer wieder Signale an die 113 Mitgliedsvereine: „Ihr erreicht jeden von uns. Wir sind für euch da.“ Fortlaufend gaben sie Empfehlungen an die Vereine – stets in enger Absprache mit Verbandsarzt Dr. Martin Jäger. Eine Online-Umfrage zur finanziellen und personellen Situation in den Klubs und Gyms wurde geschaltet. Austausch gab es auch mit dem Landessportverband Baden-Württemberg (LSVBW) regelmäßig. So entstanden Synergien mit anderen Fachverbänden wie dem Ringerverband.

Der Bundesstützpunkt Heidelberg hatte sich früh in zwei Fördersysteme aufgeteilt: Im Box-Olympiakader trainierten sie mit Erlaubnis des Gesetzgebers in kleinsten Gruppen unter strengsten Auflagen. Die Anschlusskader übernahmen das Online-System des BVBW. Das Konzept sickerte von der Spitze bis zur Basis. Und weil Corona für Entschleunigung sorgte, konnten die Trainer sportlich an technischen Feinheiten feilen.

Dennoch verlor der Boxverband seine soziale Verantwortung nicht aus den Augen. Im Anschluss an Videoeinheiten blieb stets Zeit, mal über andere Themen als den Sport zu sprechen, Privates auszutauschen. Eine Tagesstruktur sollten die Heranwachsenden beibehalten. Zur Ausdauereinheit am frühen Morgen mussten sich die Sportler melden. Nachhilfeunterricht am Nachmittag strukturierte den Tag zusätzlich. Auch die Nachhilfe wurde ab Anfang April für alle Breitensportler geöffnet. Soziale Verpflichtungen schaffen, trotz Corona: „Wenn die Kinder in der Schule abstürzen, ist das auch schlecht für die sportliche Leistung“, erklärt Vlcek. Leicht sei das nicht gewesen, „aber der Deal lautete: Nur wer sich bei den Schulaufgaben reinhängt, der darf beim Training mitmachen“.

Im Rahmen der Initiative „Hope for kids“ leiteten BVBW-Regionalleiter Noemio Carapinha und Jugendwart Adem Kartal das offene Videotraining. Boxerin Cansu Cak aus Sindelfingen war ebenfalls Ansprechpartnerin. Der Boxverband stellte weitere Tipps zur Verfügung, damit Vereine vor allem sozial schwachen Kindern in der Krise Halt geben konnten. „Unser Ziel ist es, möglichst viele Vereine zu motivieren, dass sie sich speziell ihrer Kids annehmen. Diese sollen kleine Angebote bekommen oder für sich neue Ziele im Sport definieren“, sagt Kartal. Chatangebote, Trainingsgeräte gegen Gebühr zu verleihen, Kooperationen mit Schulen einzugehen – Anregungen wie diese wurden vom Boxverband und dem Boxintegrationsprojekt „Fight for your Life“ (Boxing VS) ausgegeben.

Vier Schritte waren es letztlich bis zum fertigen Handlungskonzept: den Fokus auf Techniktraining und persönliche Weiterentwicklung zu legen, eine Tagesstruktur zu schaffen, zusätzlich schulische Nachhilfeangebote anzubieten und den Transfer vom Leistungs- auf den Breitensport zu realisieren.

Land bietet Corona-Hilfe

Der LSVBW und das Ministerium für Kultus, Jugend und Sport sind nach wie vor in ständigem Kontakt – untereinander und mit den Fachverbänden. Corona-Fördergelder konnten zudem Sportvereine und Sportfachverbände beantragen, die in einem der zugehörigen Sportbünde (Badischer Sportbund Freiburg, Badischer Sportbund Nord und Württembergischer Landessportbund) ordentliches Mitglied und als gemeinnützig anerkannt sind. Sport- und Kultusministerin Susanne Eisenmann appellierte bereits im März an Vereinsmitglieder: „Stehen Sie auch in diesen schwierigen Zeiten zu Ihrem Verein, bleiben Sie ihm treu!“

Wie viele Mitglieder haben baden-württembergische Boxvereine verloren? Das wird erst die Bilanz am Jahresende zeigen. Eine erste Online-Abfrage war laut OSP-Trainer Vlcek recht positiv: Einzelne Vereine seien sogar gestärkt aus den Monaten in der Krise hervorgegangen. Der Verein Olympisches Boxen Freiburg hat – auch dank guter Videoangebote – rund 30 neue Mitglieder gewonnen, sagt Vlcek. Genau darauf zielten die Handlungsempfehlungen ab: Mitgliedszahlen sollten sich stabilisieren und die Klubs sich finanziell über Wasser halten können: „Insbesondere die Gyms standen im Fokus, die laufende Kosten decken und hauptamtliches Personal bezahlen müssen.“

Bemüht man das Sprachbild, dann mag „Runde eins“ an Corona gegangen sein. Der Blick aber geht nach vorn. Erste Freiluft-Trainingsangebote unter Auflagen gibt es wieder. Auch Konzepte für kleine Box-Turniere mit wenigen Teilnehmern. Der BVBW geht der Zeit angemessene Wege. Was bleibt, ist der Taskforce-Leitspruch: Aufgeben ist keine Option.

Jessica Balleer