Es kann als wissenschaftlich gesichert angesehen werden, dass eine längere Periode der körperlichen Inaktivität gesundheitlich gesehen ein erhebliches Risiko darstellt. Bereits nach wenigen Wochen körperlicher Inaktivität können sich wichtige Gesundheitswerte und Risikofaktoren für Erkrankungen deutlich verschlechtern. Auch das psychische Wohlbefinden kann unter körperlicher Inaktivität erheblich leiden und insbesondere bei Älteren kann der damit verbundene Verlust an körperlicher Fitness auch die Alltagskompetenz in hohem Maße beeinträchtigen. Aktuelle Studien mit Bezug zur Corona-Pandemie zeigen, dass die unbestritten notwendigen Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung die schwerwiegende Nebenwirkung einer Zunahme körperlicher Inaktivität in der Bevölkerung haben. Dieses Infektionsschutz-Paradox bedeutet daher beispielsweise, dass die Maßnahme eines Ausgehverbots einerseits zwar zum Infektionsschutz beiträgt, andererseits resultiert aus dieser Maßnahme zwangsläufig, dass die zu schützenden Menschen sozial isoliert und psychisch enorm belastet werden und auch physisch abbauen. Der kurzfristig notwendige Infektionsschutz kann also mittelfristig genau zu dem führen, was durch die Maßnahme eigentlich verhindert werden sollte: zur Krankheit der Betroffenen.

Protektive Wirkung nicht vergessen

Bei den notwendigen Maßnahmen des Infektionsschutzes darf die protektive Wirkung einer guten körperlichen Fitness nicht vergessen werden. Zwar schützt regelmäßige körperliche Aktivität nicht direkt vor Infektionen, allerdings hilft eine gute Fitness dem Körper, einer einmal eingetretenen Infektion zu entgegnen und diese auch besser zu tolerieren. Bislang gibt es zum SARS-CoV-2 Virus diesbezüglich noch keine wissenschaftlichen Daten, doch man kann zumindest vermuten, dass ein „fittes“ Immunsystem bei Kontakt auch mit diesem Virus von Vorteil ist.

Uns scheint es also dringend geboten, bei den Überlegungen zu den durchaus weiterhin notwendigen Kontaktbeschränkungen zu berücksichtigen, dass die Aufrechterhaltung eines ausreichenden Umfanges an sportlicher und körperlicher Aktivität eine für die Gesundheit der Bevölkerung unersetzliche Bedingung ist. Daher gilt es, bei den künftigen Überlegungen zum Umgang mit Covid-19 nicht mehr primär darauf zu fokussieren, welche Verhaltensweisen zu verbieten sind, sondern vielmehr darauf, was die Voraussetzungen sind, dass das, was bei einem Großteil des Menschen zu einer hohen Lebenszufriedenheit beiträgt, bei möglichst geringem Infektionsrisiko realisiert werden kann. Sport und Bewegung, auch Mannschaftssport und/oder Fitnesstraining, sind wichtige Mittel der psycho-physischen Gesunderhaltung und tragen wesentlich zur individuellen Lebenszufriedenheit bei. Sollen diese Aktivitäten weiterhin realisiert werden, muss bei der Erarbeitung von Maßnahmen des Infektionsschutzes weniger bevormundend gedacht werden. Vielmehr sind die Akteure, die für die Gestaltung von Angeboten verantwortlich sind, in die Überlegungen zu Infektionsschutzmaßnahmen miteinzubeziehen. Es geht also darum, anstatt kategorischen Schließungen von Sportangeboten sich auf die Frage zu konzentrieren: wie sind solche Sport-, Fitness- und Bewegungsangebote möglich unter Einhaltung von Hygienebedingungen? Konkret bedeutet dies, den Sportanbietern auf wissenschaftlicher Basis Orientierungswissen zu geben, welche Hygienebedingungen einhalten werden müssen, damit Sport-, Fitness- und Bewegungsangebote realisiert werden können. Der Entwurf dieser Angebote mit minimalem Infektionsrisiko ist aber den Anbietern selber zu überlassen.

Insgesamt gesehen ist also eine dezidierte Entwicklung und Umsetzung von Konzepten zielführend, wie unter Aufrechterhaltung wirksamer Maßnahmen zur Vermeidung der Übertragung von SARS-CoV-2 gleichzeitig sportliche und körperliche Aktivitäten in einem vertretbaren Ausmaß möglich sind. Hierzu gibt es bereits viele sinnvolle Ansätze, die jedoch durch einen generellen Lockdown ausgebremst werden.

Beispiele wären:

  • Sportaktivitäten in den Vereinen mit gut überwachten Hygienekonzepten
  • Förderung (öffentlich) organisierter Sportangebote im Freien und unbürokratische Nutzbarkeit überdachter Freiflächen
  • Partielle Öffnung von Fitnessstudios mit Beschränkung z.B. auf Krafttraining sowie unter Einsatz von Luftfiltern
  • Besondere Fokussierung auf spezifische Zielgruppen (Kinder, Jugendliche, Ältere, Menschen mit erhöhtem Krankheitsrisiko)
  • Gezielter Einsatz digitaler Formate zur Bewegungsförderung in den Medien

Wir sind der Meinung; Um die Folgewirkungen der Covid-19-Pandemie möglichst gering zu halten, muss über das bloße Infektionsgeschehen hinausgedacht werden. So sind zwar kurzfristige Risiken von Massenansteckungen weiterhin zu minimieren. Die entsprechenden Maßnahmen sind aber immer – und dies gilt eben auch für den Bereich von Sport und Bewegung – darauf zu prüfen, welche mittel- und langfristigen psychologischen, sozialen, ökonomischen und gesundheitsbezogenen Folgen mit den Maßnahmen zur Prävention von Infektionen verbunden sind.

Prof. Dr. Andreas Nieß
Prof. Dr. Ansgar Thiel

Interfakultäres Forschungsinstitut für Sport und körperliche Aktivität
Universität Tübingen 

20.11.2020