Ulrich Derad befasst sich als Hauptgeschäftsführer des Landessportverbandes Baden-Württemberg seit Jahren intensiv mit dem Thema Leistungssport. Im Interview mit SPORT in BW äußert er sich über seine Eindrücke in Bezug auf die Olympischen Spiele in Rio und die Zukunft des deutschen sowie des baden-württembergischen Leistungssports.

Herr Derad, Sie haben die Olympischen Spiele in Rio wie viele andere auch nicht live vor Ort, dennoch aber über Stunden hinweg am Fernseher verfolgt. Welche Eindrücke konnten Sie gewinnen?

Aus meiner Sicht gab es eine Diskrepanz zwischen der olympischen Idee grundsätzlich und der Probleme vor Ort, auch wenn der Funke während der Spiele dann doch übergesprungen zu sein scheint. Natürlich ist das ein Eindruck von weit weg und sicher auch geprägt von den Informationen, vor allem der TV-Berichterstattung, die vorhanden waren.

Vor Jahren war es das Ziel des IOC, Olympische Spiele auf allen Kontinenten stattfinden zu lassen. Jetzt hat ein Schwellenland wie Brasilien das Milliardenunternehmen gestemmt, allerdings mit vielen negativen Vorzeichen. Stichworte wie Armut, Verschwendung, Korruption oder Umweltschutz bestimmten die  Schlagzeilen. Gehören Olympische Spiele doch eher in westliche Metropolen, denn mit der Vergabe an  autokratische Systeme tun wir uns im Westen ja auch schwer?

Nein, sie gehören allen, nur die genannten Begleitumstände gehören nicht zur olympischen Idee. Und ich denke, das Umdenken sollte nicht nur beschworen, sondern den Menschen durch entschlossenes Handeln auch gezeigt werden, dass man reformieren möchte. Sportstätten, die dauerhaft genutzt werden und oder schon vorhanden  sind, olympische Dörfer, die für die Bevölkerung da sind, eine Infrastruktur, die zu Erleichterungen für die Bevölkerung führt – wer sollte dann dagegen sein?

Sind Olympische Spiele überhaupt noch zeitgemäß?

Auf jeden Fall, aber nur bei entsprechender Gestaltung und Umsetzung. Vielleicht sind sie dann sogar wichtiger denn je. Ein interkultureller Austausch, fairer Wettbewerb, Ziele gemeinsam verwirklichen – das sind tagesaktuelle Themen, für welche die olympische Idee und deren Werte stehen.

Was die Erfolge der deutschen Athleten anbetrifft, so hieß es im Vorfeld, dass zumindest das Ergebnis von London mit 44 Medaillen erreicht werden sollte. Jetzt sind es mit 42 gerade einmal zwei weniger geworden. Dennoch scheint der deutsche Sport im Allgemeinen mit dem Ergebnis nicht zufrieden zu sein. Welches sportliche Fazit ziehen Sie?

Das ist immer eine Frage der Sichtweise. Ich bin davon überzeugt, dass die persönliche Bestleistung der Maßstab für Athletinnen und Athleten sein sollte. Wenn diese erreicht wird, ist die Platzierung aus meiner

Sicht zweitrangig. Dies ist in Zweikampf oder Spielsportarten natürlich schwieriger zu bemessen, aber auch hier weiß man im Vorfeld ungefähr was möglich ist. Kanu spricht da für sich. Nur mit Athletinnen, und ich meine nicht aus der Sportart Kanu, für die das Eigenmarketing, egal bei welcher Leistung, an erster Stelle steht, damit kann ich mich nicht identifizieren.

Sie waren zuletzt mehrfach bei Gremiensitzungen des Deutschen Olympischen Sportbundes in Frankfurt. Um was ging es da genau? Begleiten Sie die Diskussion rund um die Zukunft des deutschen Leistungssports positiv?

Ja, wir sind da miteinbezogen, und die Diskussionen tun der Sache gut. Eine funktionale Betrachtung muss im Vordergrund stehen, alles andere macht keinen Sinn. Die Tendenz ist: gestalten statt verwalten, und das ist gut so. Weg vom Bestandsdenken, hin zu erfolgsbezogenen Perspektiven mit klaren und überprüfbaren Zielvorstellungen – Entscheidungen treffen und Verantwortung zeigen.

Welche konkreten Forderungen stellen Sie auf? Sie waren ja selbst langjähriger Spitzensportler.

Was ich bei der vorigen Frage gesagt habe ist Voraussetzung, dazu kommen Transparenz und Offenheit. Weg von Ausreden, hin zur Analyse der Probleme. Sodann diese formulieren, um Lösungen zu finden und zu präsentieren. Dann, aber auch nur dann, ist Unterstützung möglich.

Heruntergebrochen auf Baden-Württemberg: Wie sieht Ihr Rio-Fazit hier aus?

Wir hatten viele Teilnehmer in Rio, das ist positiv, das heißt der Trend, die Grundlage stimmt. Die Ergebnisse sind

durchwachsen, das gehört dazu. Es gilt jetzt, die Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass neben der Anzahl auch die Ergebnisse optimiert werden im Sinne der jeweiligen Bestleistungen und einer damit verbundenen internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Dies geht nicht von heute auf morgen, ist aber machbar. Wir müssen

uns nur angewöhnen in Zyklen zu denken. Vier Jahre sind fast zu kurz, besser, acht bis zwölf Jahre, so lange dauert es in der Regel bis zur Spitzenleistung im Sinne eines vernünftigen, langfristigen Leistungsaufbaus.

Es scheint so, dass der deutsche Sport gerade im Mannschaftsbereich wieder wettbewerbsfähiger ist. Trügt dieser Eindruck?

Nein, tendenziell ist das richtig erfreulich und dennoch weiter verbesserungswürdig. Sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren ist schwierig aufgrund der geringen Quotenplätze für Europa in diversen Mannschaftssportarten, siehe die Volleyballer, die an einem Platz gescheitert sind. Oder Basketball, wo von rund zwölf internationalen Topteams in Europa nur fünf nach Rio durften. Wenn man dann bedenkt, dass die deutsche Mannschaft bei der Qualifikation zu Rio in der Vorrunde mit nur einem Punkt am späteren Europameister und

dann Olympia-Dritten Spanien gescheitert ist, dann ist das, verglichen mit anderen Sportarten, die automatisch über Quotenplätze verfügen, mehr als nur bedauerlich. Vor Ort wären auch diese deutschen Teams sicherlich für eine Überraschung gut gewesen. Hieran sieht man, wie eng es ist bzw. sein kann. Gehen wir weg vom Mannschaftssport zum Gewichtheben. Platz zehn für Sabine Kusterer dank persönlicher Bestleistung und sehr positiver Ausstrahlung – das ist genauso viel wert wie eine Medaille. Gerade bei den Begleitumständen im Gewichtheben, und das hat mich genauso gefreut wie ein Medaillengewinn. Und dann die überragende Leistung des Reiters Michael Jung – fantastisch. London, jetzt Rio, das ist toll. Wohl wissend, dass er nicht von unserem System hier in Baden-Württemberg profitiert bzw. unterstützt wird.

Welche Erkenntnisse allgemeiner Art ziehen Sie aus den Ergebnissen von Rio?

Dass wir auf einem guten Weg sind, den es auszubauen gilt, konsequent und zielgerichtet. Die individuelle Betrachtung und die richtige Einordnung der Ergebnisse, inklusive der daraus abzuleitenden Potenziale, sind von entscheidender Bedeutung für die Zukunft.