Dr. Michael Spikermann, ehemaliger Bundesstützpunkttrainer und Landestrainer Schwimmen, setzt seit vielen Jahren auf Höhentraining und möchte seine Erfahrungen mit seinen Trainerkollegen teilen. Sport in BW sprach mit ihm über diesen Ansatz.

Hinweis: Eine gekürzte Version dieses Interviews ist in der Oktoberausgabe von Sport in BW zu finden.

Dr. Spikermann, Sie nutzen bereits seit vielen Jahren Höhentraining als Element in der Arbeit mit Ihren Athleten im Schwimmsport. Wann und wie begann diese Reise?

Das ging Ende der 90er-Jahre los. Im DDR-Sport hatte Höhentraining bereits eine große Rolle gespielt. Wir im Schwimmen haben auf Grundlage der Expertise aus der DDR Höhentraining dann als Element aufgenommen.

Was sind Ihre wichtigsten Erkenntnisse über all die Jahre?

Für mich ist die wichtigste Erkenntnis die, dass speziell im Schwimmen in den Disziplinen und Strecken, in denen die Ausdauer eine Rolle spielt, Höhentraining dafür geeignet ist, um aus einem begabten Sportler einen Spitzensportler zu machen.

Hat sich der Ansatz seit der Jahrtausendwende verändert? Wie?

Es hat sich einiges verändert. Alle erfolgreichen Sportnationen haben Höhentrainingsprojekte mittlerweile als Teil der Leistungssportkonzeption. Bei uns hat sich auch einiges verändert. Zum einen die Dauer des Aufenthalts: für Kurzstreckenschwimmer liegt der Standard bei drei Wochen, für Langstreckenschwimmer bei vier Wochen. Zudem macht man bei drei Trainingszyklen pro Jahr je ein Höhentrainingslager pro Zyklus. Ich sehe zudem weiterhin Verbesserungspotenzial bei der Frage, wie nah das Höhentrainingslager am Zielwettkampf liegt. Es gibt wohl die Leitlinie, dass Kurzstreckenschwimmer circa 31 Tage vor dem Wettkampf aus der Höhe zurückkehren; Langstreckenschwimmer, speziell Frauen, hingegen erzielen sehr gute Ergebnisse, wenn sie direkt aus der Höhe zum Wettkampf reisen.

Wie kann man sich das Training in der Höhe vorstellen?

Auf Höhentraining muss man sich einstellen, das ist kein Vergnügen. Man fährt für drei bis vier Wochen in ein Trainingszentrum, in dem Höhentraining möglich ist. Dort ist man dann ununterbrochen unter Höhenbedingungen. Der verminderte Sauerstoffgehalt in der Höhe wird für das Training genutzt, es ist eine physiologische aber auch eine psychologische Belastung – man muss das schon wollen!

Von welcher Höhe sprechen wir? Gibt es Unterschiede, welcher Athlet wie lange in welcher Höhe trainieren sollte?

Man ist gut beraten, zu Beginn nicht in die ganz großen Höhen zu gehen. Der Stand der Wissenschaft ist so, dass man ab einer Höhe von 1500 Metern mit einem Höhentrainings-Effekt rechnen kann. Wir haben Höhentrainingslager zwischen 2000 und 2300 Metern durchgeführt. Junge Athleten führt man langsam an die Höhe heran, beginnt bei unter 2000 Metern. Ansonsten gibt es keine großen Unterschiede. Man muss eben vorsichtig sein, was die Belastung angeht. Es gibt Sportler, die kommen gut zurecht, andere nicht so sehr.

Wie wird überprüft, ob das Höhentraining zu Leistungssteigerungen führt? Sind Erfolge kurzfristig sichtbar?

Man macht sogenannte Stufentests, vor und nach der Höhe. Es gibt dafür Standard- und Testserien, die man im Höhentrainingslager durchführt. Je nach Möglichkeiten werden viele Parameter erhoben. Laktat ist sehr gängig, man überprüft im Training, ob der Sportler im für ihn trainingswirksamen Bereich arbeitet. Morgens vor dem Training machen wir nüchtern Harnstoff- und Creatin-Kinase (CK) -Messungen, um zu sehen, wie der individuelle Verlauf der Belastungsparameter aussieht. So stellen wir sicher, dass keine Überbelastung stattfindet. Zudem messen wir Ruhepuls, Körpergewicht, Sauerstoffsättigung. All das sollte man in der Höhe messen, da die Trainingswirkung und die physiologische Belastung höher sind. Eine gute Trainingssteuerung ist hierbei immens wichtig!

Können Sie ein konkretes Beispiel aus Ihrer Trainingsgruppe nennen, bei welchem das Höhentraining zu Leistungssteigerungen beigetragen hat?

Ich könnte einige Beispiele anführen. Philip Heintz war im letzten Jahr bei seinen dritten und letzten Olympischen Spielen. Er war bereits als Juniorenschwimmer bei Europameisterschaften erfolgreich. Ab 2011 haben wir mit Höhentrainingslagern begonnen und er hat dann einen sehr großen Schritt gemacht: Über 200 Meter Lagen, was vorher nicht seine Hauptstrecke war, hat er sich durch die Höhentrainingslager von 2:12 Minuten zunächst auf 1:59 Minuten gesteigert und ist zu einem der weltbesten Lagenschwimmer geworden. 2017 verbesserte er den Deutschen Rekord auf 1:55,78 Minuten, das war zu diesem Zeitpunkt die fünftschnellste Zeit, die je geschwommen wurde. Ich führe das zum größten Teil auf das Höhentraining zurück. Das ist allerdings nicht immer zu erwarten, Steigerungen werden vor allem im ersten und zweiten Jahr sichtbar und werden dann gehalten.

Ihre Erfahrungen mit Höhentraining im Schwimmsport haben Sie unlängst in einem Modul des Landestrainerhauptseminars des LSVBW mit Trainerkollegen geteilt. Welche Chancen sehen Sie für den deutschen Spitzensport insgesamt?

Wie bereits gesagt ist in allen Leistungssportkonzepten der erfolgreichen Sportnationen Höhentraining verankert. Ich glaube, dass systematisches Höhentraining für alle Ausdauersportarten und -disziplinen eine Rolle spielen kann und wird. Das wird zum Teil schon gemacht, es muss jedoch hier und da eine gewisse Systematik rein. Man muss allerdings die Erwartungen dämpfen, denn es wird nicht bei jedem Athleten so sein, dass er durch Höhentraining direkt ein Weltklasse-Sportler wird, das dauert seine Zeit und man muss mittel- und langfristig denken. Aber ich bin überzeugt, dass dies ein probates Mittel ist, um in verschiedenen Disziplinen in die internationale Spitze zu kommen.

Könnte dies auch ein Ansatz sein, um dem deutschen Spitzensport wieder mehr zu den so häufig geforderten Medaillenerfolgen zu verhelfen?

Ein Ansatz, doch das Thema ist vielschichtig und komplex. Das Problem, das wir im Spitzensport und als Trainer haben, ist die Frage, wie ich eine Trainingskonzeption in einen bestehenden Wettkampfkalender einpasse. Ich glaube wie gesagt, dass Höhentraining systematisch angewandt ein probates Mittel sein kann, um international erfolgreich zu sein, doch da gehört noch einiges andere drum herum. Ich muss mich ja fragen, was das für den Sportler bedeutet: Neun bis zwölf Wochen Abwesenheit vom Heimattrainingsort und eventuell aus der Schule. Dazu kommen all die Wettkämpfe. Man muss also organisieren, dass eventuell eine schulische Betreuung mitfährt, gerade bei jungen Sportlern. Zudem haben wir generell in manchen Sportarten das Problem, dass es international eine Häufung an Wettkämpfen gibt. Das macht die Einplanung von Höhentrainingsblöcken schwierig, auch für die Wettkampfsteuerung. Man muss Prioritäten setzen.

Was macht die Infrastruktur diesbezüglich in Deutschland?

In Deutschland gibt es keine Trainingsstätten für Training in natürlicher Höhe, nur ein paar wenige Einrichtungen, um eine künstliche Höhe zu simulieren. Man muss also ins Ausland fahren, nach Italien, Frankreich oder Spanien. Die Belegung dort ist ein zunehmendes Problem, denn die Einrichtungen werden immer beliebter, die Nachfrage nach Höhentraining hat in den letzten Jahren international stark zugenommen. Man muss schon rechtzeitig planen, um einen Platz zu bekommen. Am Ende haben die nationalen Gruppen dann eben Vorrang vor Gästen aus anderen Nationen.

Was machen andere, zuletzt erfolgreichere Nationen anders?

Ich beobachte, dass internationale Kollegen aus dem Schwimmen eine viel größere Planungssicherheit haben. Sie können über vier oder sogar acht Jahre verlässlich planen. Das haben wir nicht und das macht die konsequente Planung eines Olympiazyklus schwieriger.

Zurück zum Thema: Ihre Erfahrungen beziehen sich auf Spitzenschwimmer. Eignet sich Höhentraining auch für Spitzensportler anderer Sportarten?

Speziell in Spanien in der Höhe der Sierra Nevada haben wir beobachtet, dass andere Nationen in sehr vielen Sportarten Höhentrainingslager durchführen, beispielsweise die spanischen Wasserballerinnen und Handballer, die Sportart Rugby, selbstverständlich die Läufer und Geher aller Nationen und die Profiradteams. All diese nutzen die Höhe, um internationale Wettkämpfe vorzubereiten. Ein tschechischer Mehrkamptrainer sagte mir, er erhoffe sich vom Höhentraining eine allgemeine Steigerung der Trainierbarkeit und Belastbarkeit für das spezifische Training. Beim LSVBW-Workshop zum Höhentraining im August kamen Kollegen aus vielen Sportarten zusammen. Auch da wurde sichtbar, dass einige Sportarten das intensiv nutzen. Die Läufer in der Leichtathletik beispielsweise oder auch die Triathleten. Auch die Boxer haben schon Höhentrainings mit guten Ergebnissen durchgeführt. Für Ausdauersportarten eignet sich das sicher am besten. Man muss das vor dem Hintergrund sehen, dass man beim Höhentraining weniger Sauerstoff zur Verfügung hat, darauf erfolgt eine Anpassung im Blutbild in Form einer Zunahme der roten Blutmasse. Meine Erfahrung zeigt jedoch, dass sehr viel mehr passiert, vor allem zu Beginn in der Höhe, wenn sich der Körper umstellen muss: Wir gehen davon aus, dass eine vermehrte Ausschüttung körpereigener Hormone wie Wachstumshormone und Testosteron, stattfindet. Wenn man das so nennen will geschieht also etwas wie natürliches Doping. Das führt dazu, dass auch im Kraft- und Schnelligkeitsbereich gute Bedingungen vorliegen, um Verbesserungen zu erzielen. Untersuchungen gibt es hierzu jedoch bisher fast keine, da wissen wir noch viel zu wenig.

Im Höchstleistungssport wird Hand in Hand mit Sportwissenschaftlern gearbeitet. Welche Rolle spielt die Forschung?

Richtig, man braucht einen Physiologen, der das begleitet. Dr. Jost vom OSP Metropolregion Rhein-Neckar hat die Höhentrainingslager für meine Trainingsgruppe begleitet, wir haben die Stufentests gemeinsam gemacht und stets eng zusammengearbeitet. Man muss dranbleiben und neue Erkenntnisse der Wissenschaft nutzen, um die Konzepte stets anzupassen. Manchmal muss man neue Dinge ausprobieren, und manches funktioniert dann eben nicht, doch wenn man erfolgreich sein will, gehört das dazu.

Welche anderen Elemente können mit dem Höhentraining verknüpft werden? Gibt es Aspekte in der Trainingssteuerung, auf die besonders zu achten ist?

Der Effekt von Höhentraining setzt sich aus der Wirkung durch das Training selbst und die Anpassung an Höhenbedingungen zusammen. Ein gutes Regenerationsmanagement ist in der Höhe viel entscheidender für die Trainingswirksamkeit als unter Normalbedingungen. Zur Regeneration gehört die physiotherapeutische Betreuung, Behandlungen mit Kälte und Wärme, also alles, was eine schnelle Wiederherstellung begünstigt. Auch die Ernährung spielt eine sehr wichtige Rolle. All das wird überwacht zum Beispiel durch die tägliche Erfassung von Belastungsparametern, speziell von CK und Harnstoff. So werden unerwünschte Veränderungen schnell sichtbar und es kann gegengesteuert werden.

Lassen Sie uns nach vorne blicken: Welche Entwicklungschancen sehen Sie im Ansatz des Höhentrainings?

Ich halte generell viel von Höhentraining im Höchstleistungssport. Große Entwicklungschancen bestehen darin, dass man überprüft, für welchen Sportler in welcher Disziplin zu welchem Zeitpunkt Höhentraining Sinn ergibt. Nutze ich das Höhentraining, um intensive Trainingsinhalte vorzubereiten oder zur Wettkampfvorbereitung? Das bedarf ganz unterschiedlicher Planungen. Hier sehe ich noch großen Forschungs- und Erkenntnisbedarf, und großes Potenzial, individuell und für jede Sportart.
Eine Randnotiz, zu welcher es bisher wohl keine Studienlage gibt: Für Allergiker sind die Bedingungen in der Höhe, teils über der Baumgrenze, ein „Paradies“. Wir hatten immer wieder Sportler, die im Sommer Medikamente mit teils starken Nebenwirkungen nehmen mussten. Für diese ist das Höhentraining eine gute Möglichkeit, in einer wenig belasteten Umgebung zu trainieren.